Gibt es in Deutschland überhaupt noch einen gesellschaftlichen Zusammenhalt? Oder sind wir alle nur individuelle Inselchen? Zusammenhalt: das wäre wohl eine Gesellschaft, in der man an der Türe des Nachbarn klopfen könnte, um nach Ladenschluss eine Rolle Klopapier erschnorren zu können. Inselchen: das wäre eine Vielzahl von Individuen mit Tunnelblick und Ohrenstöpseln, ohne Bezug zu denjenigen, denen wir in der Straßenbahn „begegnen“. Und ist das ein politisches Thema? Geht es den Staat, geht es die Regierung an, wie wir im Lande miteinander umgehen?
Ein Soziologe hat schon vor sehr langer Zeit gezeigt, dass bei fehlendem sozialen Zusammenhalt die Selbstmordraten steigen, wenngleich unter ganz anderen Umständen. Ein moderner Staat dagegen darf sich nicht übergriffig in die individuellen Beziehungen seiner Bürger*innen einmischen, so lehrt der Liberalismus. Jedoch lebt derselbe liberale Rechtsstaat, dem sogenannten Bockenförde-Paradox zufolge, von sozialen Voraussetzungen, die er selbst nicht gewährleisten kann. Umfragen zeigen, dass Menschen von anderen Rücksicht und Hilfsbereitschaft erwarten, zugleich aber ihre Kinder zu selbstbewussten Individuen erziehen. Welche Widersprüche können hier aufgezeigt, welche Lösungsansätze können vorgeschlagen werden?
In der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland positionieren politische Parteien sich seit der Wiedervereinigung auch als „Kümmerer“. Sie greifen die Interessen der „kleinen Leute“ auf und kümmern sich um deren Belange. Anders gesagt: sie schaffen eine Form von Zusammenhalt, und versuchen, diese in politisches Kapital umzumünzen. Jüngst hat auch das BMFSJ einen Gesetzentwurf gegen Einsamkeit vorgestellt. Allein damit wird die Frage zu einer politischen Frage: welche Erwartungen des Souveräns an das politische System werden hier sichtbar? Wie kann das politische System antworten? Und wie können diese Antwortversuche bewertet werden?
Offenbar muss zunächst Ordnung in das Chaos gebracht werden. Wie üblich wäre mit der Frage der genauen Begrifflichkeit zu beginnen: Was ist „Zusammenhalt“? Oft kann mit dieser Frage auch ein Überblick über bestehende Theorien und Ansätze gewonnen werden: Wer hat zu dem Thema schon gearbeitet, und wer hat dabei besonderen Einfluss? Mit diesen theoretischen Grundlagen können empirische Grundlagen der Situation festgestellt werden: Wie ist es tatsächlich um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft bestellt?